Die Dresdner Boheme vom Elbhang feiert auf dem Marktplatz von Naumburg. Foto: Ausschnitt aus der Regionalpresse, 1969
Eine Reise zur Boheme am Elbhang.
Der Dresdner Kameramann Ernst Hirsch nimmt Sie in seiner längst vergriffenen Autobiografie "Ernst Hirsch - Das Auge von Dresden" mit auf eine Reise zur Boheme am Elbhang - zu seiner kleinen und großen Familie.
Exklusiv darf "leben 50" alle Kapitel des Buches veröffentlichen. Lasen Sie sich von Teil 14 des Abdruckes überraschen. Es ist ein Wiedersehen mit vielen bekannten Dresdner Persönlichkeiten - eben der Boheme am Elbhang.
Meine erste Ehe mit Gisela
Im November 1958 bekamen wir den Auftrag, über eine Laienspielgruppe in der Großenhainer Oberschule zu berichten. Zuerst filmten wir die Proben, einige Tage später dann den Auftritt. Eine der Abiturientinnen fiel mir besonders auf: Sehr hübsch, attraktiv, die blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Bis dahin hatte ich noch keine Freundin gehabt. Eigentlich beschäftigte ich mich mehr mit meiner Filmarbeit als mit der Aiusschau nach weiblichen Wesen. Ich konnte nicht tanzen und war ziemlich schüchtern. - Aber wie es so geht, wenn man jung ist - der Kontakt mit Gisela, so hieß sie, kam zustande. Wir freundeten uns an, sie stellte mich ihren Eltern vor. Ihr Vater, ein anerkannter Chirurg, war Chefarzt des Krankenhauses in Großenhain. Gisela hatte noch zwei jüngere Brüder. So kam ich in eine intakte bürgerliche Familie, wie ich sie vor dem Krieg von meinem Elternhaus her kannte. Meine Mutter, die wohl wie alle Mütter um ihren Sohn besorgt waren, akzeptierte Gisela bald. Sie lernte sie auf einer gemeinsamen Fahrt an die Ostsee auch näher kennen. Damals war alles noch viel konventioneller. 1960 verlobten wir uns. Meine Mutter verstarb 1961 an Krebs, trotz des großen ärztlichen Einsatzes meines zukünftigen Schwiegervaters und nach einem Aufenthalt in der Spezialklinik in Berlin-Buch, die damals nur besonderen Patienten vorbehalten war. Nun stand ich allein da, ohne Familie. Wir beschlossen, im Dezember 1961 zu heiraten. Gisela studierte unterdessen Medizin und wurde später Augenärztin. Wir zogen in ein Haus in Dresden-Niederpoyritz am Elbhang in schöner Lage mit Blick auf die Elbe und die Stadt in der Ferne. Dieses hatte ich schon 1959 von einem Schulfreund meiner Mutter günstig erworben. 1963 wurde unsere Tochter Susanne geboren. Obwohl wir viel unternahmen und zahlreiche Freunde hatten, mit denen wir Urlaub in Ungarn und der Hohen Tatra machten, waren die Interessen und besonders unsere Berufe wohl doch zu unterschiedlich. Als Filmreporter war ich viel unterwegs, Gisela war fünf Jahre jünger als ich und voller Lebenslust. 1965 trennten wir uns einvernehmlich, zum Bedauern der Schwiegereltern. Tochter Susanne wurde ihrer Mutter zugesprochen. Ich halte bis heute stets Kontakt zu ihr und ihren Kindern, meinen Enkeln Tim und Anne Hauptfleisch.

Seit 1968 gemeinsam mit Cornelia
Durch den Fotografen Michael Arndt lernte ich dessen Schwester Cornelia kennen, fast zehn Jahre jünger als ich. Sie hatte Schneiderin gelernt, arbeitete aber bei »Arndt & Dittmann«, dem kunsthandwerklichen Betrieb ihrer Eltern, wo sie traditionell erzgebirgische Holzartikel bemalte. Sehr praktisch veranlagt und auch technisch interessiert, hatte Cornelia schon mit 18 Jahren den Führerschein erworben. Sie fuhr oft ins Erzgebirge nach Seiffen, um von dort mit dem Lieferwagen gedrechselte Holzfiguren zu holen, die dann in der elterlichen Firma bemalt wurden. Cornelias Vater Alfred Arndt, den ich noch kurz kennengelernt hatte, verstarb 1965. Danach leitete ihre Mutter Erika resolut und umsichtig den Betrieb mit dem Namen »Neue Erzgebirgische Handwerkskunst«. Dieser fand sich in Dresden-Kleinzschachwitz im Erdgeschoss des geräumigen eigenen Hauses, das seit 1918 der Familie gehörte. Das Bemalen der Räuchermänner und Engel, Ostereier und verschiedener kleiner Tiere, hundertfach wiederholt, war wohl für Cornelia auf Dauer nicht die richtige Beschäftigung. Da fand meine abwechsungsreiche Filmtätigkeit, zu der ich sie hin und wieder mitnahm, schon mehr ihr Interesse. Doch nicht nur das brachte uns einander näher, wir spürten bald, gut zueinander passen. Ich wollte jedoch nach den Erfahrungen meiner ersten Ehe nicht schnell eine neue feste Bindung eingehen. Erst 1968 beschlossen wir zu heiraten. Alle Termine bei den Dresdner Standesämtern waren für lange Zeit vorbestellt. Aber hoch oben auf der Festung Königstein gab es einen freien Termin. Dort war zu dieser Zeit in der Friedrichsburg ein Standesamt eingerichtet. Am 30. Mai 1968 heirateten wir an diesem historischen Ort, in dem Raum der Burg, wo sich einst der Fußboden öffnete und ein "Tischlein, deck dich" für August den Starken und seine Gäste emporkam. An dessen Stelle stand jetzt der Tisch, auf dem wir die Heiratsurkunde unterschrieben, nachdem die Standesbeamtin ihre Formeln gesprochen hatte und die Standardmusik aus dem Lautsprecher in krächzender Tonqualität verklungen war. Die Kanonen auf der Festung donnerten zwar nicht Salut, aber wir kreuzten unsere Hände zu einem Foto über dem Kanonenrohr. Am nächsten Tag gab uns Pfarrer Reinisch in der Kirche "Maria am Wasser" in Hosterwitz den kirchlichen Segen. Unter den Klängen des schönen Sommerliedes von Paul Gerhardt "Geh aus meinem Herzen und suche Freud", wo wir im vierten Vers - "...der schnelle Hirsch, das leichte Reh" -selbst "besungen" werden, verließen wir die Kirche. Es war ein herrlich sonniger Tag. Die Hochzeitsgesellschaft ging auf dem Fußweg an der Elbe zur Pillnitzer Fähre, wo im nahegelegenen Haus Arndt die Feier stattfand. Auf der anderen Elbseite zog Cornelia mit in das Haus am Hang an der Siedungsstraße in Niederpoyritz, das ich schon seit 1961 bewohnte. Das Haus mit zwei kleinen Wohnungen war 1939 erbaut worden. Bei der allgegenwärtigen Wohnungsknappheit in der DDR hatten wir allerdings keine Aussicht, das gesamte eigene Haus bewohnen zu können. Doch bald zeichnete sich eine Familienerweiterung ab: Sohn Konrad war unterwegs. Durch einen Anbau wollten wir zusätzlichen Wohnraum und zwei Arbeitsräume gewinnen. Der Bauantrag wurde genehmigt. Am 1. Juni 1975 begannen wir an der Rückfront des Hauses den Hang unterhalb der oben vorbeiführenden Staffelsteinstraße abzugraben und eine Stützmauer zu errichten. Nur durch viele Eigenleistungen und die Hilfe guter Freunde war zu dieser Zeit ein solches Vorhaben zu bewältigen. Wir hatten Glück, dass uns die nahegelegene Baufirma Barth mit zwei Bauleuten unterstützte. Die Lage des Hauses war für ein Bauvorhaben ungünstig. Am Hang musste ein Podest errichtet werden, auf dem der Mörtelmischer stehen konnte. Die Zuschlagstoffe kamen ebenso wie alles andere Baumaterial über eine Rutsche von der Staffelsteinstraße herunter. Tagebucheintrag vom 29. August 1975: "Die Maurer vom Anbau soffen heute nur, sangen Liedchen und taten fast nichts".
Trotzdem ging es mit dem Bau voran, wenn auch langsam. Das Sägewerk in Schönfeld lieferte am 14. Juli 1977 die Dielenbretter für das neue Wohnzimmer.Trotz der allgemeinen Materialknappheit konnten wir Baumaterial, Dachziegel, Zement und sogar keramische Fliesen beschaffen. Unser guter Nachbar Klaus Sawusch hat uns dabei viel geholfen. Im Sommer 1977 war alles soweit fertig, im Juli konnten die Arbeitsräume eingerichtet werden. Nun hatten wir ein geräumiges Wohnzimmer, davor eine Terrasse und, über eine Wendeltreppe zu erreichen, ein Schlafzimmer unter dem Dach. Ein Kinderzimmer für unseren Sohn Konrad, der im März 1976 geboren wurde, gehörte dazu. Unter den Wohnräumen entstanden zwei Arbeitsräume, in denen ich nach und nach das Filmarchiv mit einem Filmschneidetisch und einer Dunkelkammer einrichtete.

Loschwitzer Künstlerkreise und -feste
Wir wohnten am Elbhang in Niederpoyritz, waren aber mit dem Ortsteil Loschwitz und mit dem dort wohnenden Künstlerkreis sehr verbunden. Zum Einen durch die Filme, die ich zu Loschwitzer Motiven gedreht habe: Für das Fernsehen zum Beispiel sogenannte "Ansichtskarten" mit lokalen Themen, wie die Brücke "Blaues Wunder" und den Dresdner Fernsehturm; zum Anderen durch Filme über die Künstler Otto Griebel, Hermann Glöckner und Max Uhlig. Die besondere Atmosphäre von Loschwitz, die Lage an der Elbe, die Schönheit der Landschaft zog zahlreiche Künstler und Intellektuelle - Schriftsteller, Musiker und Komponisten, Schauspieler und Wissenschaftler –, aber auch Originale an. Häufig trafen wir uns zu gemeinsamen Faschings- und Künstlerfesten. Die staatlichen Organe ließen uns zwar bis zu einem gewissen Grad gewähren, beobachteten und überwachten aber alles genau. Man könnte sich gedacht haben: "Lass die mal ihre Späße machen und ihre Feste feiern, sich kostümieren und Unsinn treiben, das schadet nicht. Da sind sie abgelenkt. Solange sie keine Parolen in die Welt schreien, lassen wir sie gewähren." Ein Stück Narrenfreiheit und natürlich wurden wir, wie sich 1990 herausstellte, fleißig überwacht: "Kiste" war einer von mehreren Spitzeln. Möglicherweise sagte man sich bei den Überwachungsorganen: "In diesem Stadtteil von Dresden mit so vielen Künstlern, da wollen wir keine Unruhe."
Man traf sich im "Körnergarten", einer Kneipe an der Elbe neben dem "Blauen Wunder". Bei diesen ungezwungenen Treffen ging es nicht nur vergnügt zu, es wurde ernsthaft über Fragen der Kunst diskutiert, es entstanden Ideen zu Festen. Auf einem verstimmten Klavier, auf dem es sich der Hund eines Gastes bequem machte, spielte oft der Jazzmusiker Gert Hausmann und andere. An einem dieser Abende ließ ich einmal die Trickfilmkamera drei Stunden lang laufen, alle zwei Sekunden wurde ein einzelnes Filmbild aufgenommen. 5.400 Bilder entstanden dabei, die, bei normaler Geschwindigkeit vorgeführt, den dreistündigen Abend auf 225 Sekunden zusammenschrumpfen ließen. Die Vorführung des Films erzeugte helles Gelächter: Schnellstes ruckartiges Kommen und Gehen, Biergläser werden im Nu geleert, einer raucht während des Abends mindestens 20 Zigaretten schnell und hastig hintereinander. Die "Dresdner Vokalisten" kommen und singen mehrere Lieder in Sekundenschnelle. Heute ist dieser Film das Dokument einer vergangenen und trotz Repressalien doch auch vergnügten Zeit. Auch die älteren Künstler waren gern gesehene und mit "Hallo" begrüßte Gäste in der Körnergarten-Runde. Bernhard Kretzschmar, Otto Griebel und Hans Jüchser tranken regelmäßig dort ihr Bier und klönten mit uns. Die jungen Künstler lauschten mit offenen Ohren den Erzählungen der Alten. Matz Griebel, der Sohn von Otto Griebel, residierte an einem großen Stammtisch, an dem sich einmal in der Woche alle versammelten.
Später, in den Siebzigern, richtete Griebel im Keller seines Hauses einen Treffpunkt ein, den sogenannten "Räuberkeller". Dessen Wände bemalte sein Bruder Georg mit dem "Räuberlied". An der Decke hing eine Schaufensterpuppe. Eine große alte Registrierkasse und andere kuriose Gegenstände zierten den Raum. Wir saßen auf ehemaligen Kirchenbänken um den großen Tisch herum und plauderten ungezwungen. Wie wir später feststellen mussten, schnitt auch hier ein Stasi-Agent alles mit. Wir hielten "Zeitungsschau" mit einer Auswahl von unkommentiert verlesenen Originalartikeln, was immer große Heiterkeit erregte. Ein Höhepunkt der Abende war jeweils die Verteilung von Sol-Eiern, die der Hausherr schon Tage vorher in einem großen Glas eingelegt hatte und die köstlich schmeckten. Es wurde stark geraucht. Cornelia und ich konnten den Qualm schwer ertragen und hatten einen Platz neben der Türe, wo die Luft etwas frischer war.
Wenn gefeiert werden sollte und über zwei Personen zu erwarten waren, galt die Verordnung, das Fest offiziell bei der Behörde anzuzeigen. Die Meldestelle dafür bekfand sich im Stadtteil Löbtau im Rathaus. Dort wurde immer ich hingeschickt: "Da gehst du hin, du hast keine langen Haare und siehst seriös aus, bei dir ist die Chance am größten, die Genehmigung zu bekommen." Es klappte stets. Wir verstehen es, ideenreich zu feiern. Zwei besondere Feste fanden in einem Tunnel unter der Grundstraße statt, durch den der einstige Dorfbach, die Trille, fließt. Die laute Musik schallte aus den Schleusendeckeln auf dem Körnerplatz. Als die Polizei kam und fragte: "Singt ihr hier Lieder von Biermann?", erhielt sie zur Antwort: "Nein, von Hausmann!" - So hieß der Pianist. Die Polizisten gaben sich zufrieden: "Verringert die Lautstärke, dann könnt ihr weiterfeiern." Heute noch sind die beiden Feiern als die legendären "Gullyfeste" bekannt.
Nicht nur in Loschwitz wurde gefeiert. An der Landstraße nach Pillnitz, entlang der Elbe quietschte die Straßenbahn einspurig an Wachwitz, Niederpoyritz und Hosterwitz vorbei. Zahlreiche Kneipen waren an dieser Strecke noch in Betrieb: "Heinrichs Gaststätte" in Wachwitz, wo auf der Speisekarte stand: "Original Thüringisch-böhmische Küche" und an der Wand ein Schild hing: "Hier ruhte sich oft und gern der letzte sächsische König Friedrich August III. von seinen Spaziergängen aus". Oft feierten wir in "Heinrichs Gaststätte" verrückte Faschingsfeste, stets mit einem anderen Motto und künstlerisch ausgestaltet. Weiter elbaufwärts lag das "Erbgericht Niederpoyritz", dessen Wirt Angermann bei jedem Glas Bier dem Gast unvergesslich "Sehr zum Wohl" wünschte. Es folgten das "Elbschlösschen"in Niederpoyritz, der "Obere Gasthof", der "Staffelstein" mit der Wirtin Zenzi und ihrem Mann Mäusi.
Aber nicht nur in den Dörfern am Dresdner Elbhang wurde gefeiert. Auch andere Orte nutzen wir für originelle Festideen: Auf der Burg Falkenstein im Harz, deren Direktor ich kannte, ein mittelalterliches Burgfest zu feiern, wäre doch etwas ganz Besonderes. Ich besorgte 20 Kostüme aus dem Theater, weitere vom Kostümverleih. An einem schönen Herbstmorgen im Oktober 1969 starteten wir, die meisten mit einem Pkw Trabant. Auf der Burg feierten wir drei Tage und Nächte. Sobald man ein Kostüm anhat, wird man doch sofort ein anderer Mensch.
An einem dieser Tage, es war genau am 7. Oktober, dem 20. Jahrestag der DDR, fuhren alle kostümiert nach Quedlinburg. Auf dem Marktplatz sangen wir vor dem Rathaus lustige Wanderlieder. Die Polizei war bald vor Ort. Wir fanden eine Ausrede: "Wir drehen hier einen Märchenfilm!" - Wegen der Filmkamera, die ich mitgenommen hatte, ordnete man den Auftritt als ein genehmigtes Spektakel ein. In Naumburg trafen wir uns zu einem Herbstfest und verkauften Blumen auf dem Marktplatz, die uns die Wirtsleute des Gasthofs "Neue Welt", in dem wir wohnten, mitgegeben hatten. Im Saal der Gaststätte stand ein reich verziertes Orchestrion, zu dessen lauter Musik Offiziere aus der nahen russischen Garnison in Naumburg mit ihren Mädchen tanzten. In mehreren Kutschen fuhren wir, ebenfalls alle kostümiert, dann nach Freyburg an der Unstrut. Selbst die Wartburg war einst der entsprechende Ort für ein "Sängerfest" in mittelalterlichen Gewändern, das Mathias Beuchel, genannt "Mathias der Eiserne", mit einigen Freunden großartig organisiert hatte.
Alle diese Loschwitzer Künstlerfeste, die Außenseiter, Sonderlinge, die Geschichten darüber und die Filmdokumentationen dazu gehören zu unseren schönsten Erinnerungen. Viele der Freundschaften von damals haben sich erhalten. 1997 gedachte das Deutsche Historische Museum in Berlin mit einer großen Ausstellung unter dem Titel "Boheme und Diktatur in der DDR" dieser Zeit. Nicht nur in Dresden, auch in Leipzig, Halle, Chemnitz und Berlin gab es solche lokale Boheme. Die Gestalter der Ausstellung und des Kataloges, zu dem ich Fotos und Filmausschnitte beisteuerte, waren Claudia Petzold und Dr. Paul Kaiser aus Dresden. Sie und der Verlag Fannei & Walz gestatteten mir, hier einen Auszug aus dem Katalog der Ausstellung wiederzugeben:
Das Boheme-Biotop Loschwitz zwischen "Körnergarten" und "Leonhardi-Museum"
"Überhaupt wirkt das 1921 nach Dresden eingemeindete Loschwitz wie ein kultureller Magnet: Sein erhalten gebliebener dörflicher Charakter, die anziehende Elbhang-Landschaft, die überlieferten Barock-Traditionen sowie das intakte staatsferne Binnenklima machten es zu einem begehrten Platz.
'Der Dresdner Osten'‹ sagte der Puppenspieler Gottfried Reinhardt, 'ist von Loschwitz bis Pillnitz ein einziger Festplatz, ein quadratkilometergroßes Künstleridyll.' Loschwitz war schon früher ein Künstlerdomizil.
Eine 'bunte Kolonie am Blauen Wunder', die fernab vom Zentrum der sächsischen Hauptstadt ein Eigenleben entfalten kann. Es war ein Ort, an dem sich Originale sammelten. Original heißt ja erst einmal nichts weiter als ursprünglich und unverfälscht. So Matthias Griebel.
Der 'Körnergarten', jenes direkt am rechtsseitigen Kopf der berühmten Brücke "Blaues Wunder" gelegene Lokal wird zunehmend zum stadtbekannten Boheme-Treffpunkt. Auch Schauspieler, Musiker und Ballett-Tänzerinen zieht es hierher. Im Sommer füllen mitunter mehrere hundert Besucher den neben der eigentlichen Kneipe gelegenen Elbe-Garten. Uneingeschränkter Hausherr ist jedoch der hochgewachsene Maler-Sohn Matthias Griebel, um den sich ein fester Kreis schart. Regelmäßig dabei sind unter anderem die Filmemacher Ernst Hirsch und Heinz Wittig sowie der Galerist Gunter Ziller - später stoßen auch junge Künstler wie der Maler und Grafiker Helge Leiberg dazu.
Wilde Feten wechseln mit ernsthaften Vorträgen, der Alkoholpegel ist zumeist enorm.
Aber auch künstlerische Projekte werden verfolgt. Das Spektrum reicht von sächsischen Happenings über ambitionierte Multimediaversuche im Kleinen Haus des Staatstheaters bis hin zu Land-Art-Projekten. Bei der Aktion 'Einrahmung der Landschaft' stellt Heinz Wittig eine Vielzahl selbstgefertigter, überdimensionaler Rahmen in die reizvolle Landschaft bei Graupa, dem ehemals königlichen Jagdgebiet. Der kollektive Blick durch die unterschiedlich großen Rahmen eröffnet neue Perspektiven. Aus den in die Bäume gehängten Lautsprecherboxen ertönt Stockhausens 'Stimmung'.
Dies alles kommt freilich nicht mit dem Pathos eines konzeptionellen Wurfs daher. Vielmehr dominiert die sinnliche Seite, der dem Staat abgetrotzte Spaßfaktor. So werden Kostümfeste zu symbolischen Manifestationen eines anderen, unverkrampften Lebens, das in Loschwitz noch möglich erscheint. Oder man veranstaltete Foto-Sessions, in denen Griebel im Gründerzeitaufzug mit seinem musealen Hochrad vor den Stadtinsignien des sozialistischen Aufbaus posiert.
Bei soviel Öffentlichkeitswirksamkeit wird die Gruppe von der Staatssicherheit observiert. Es war eine in sich geschlossene Gruppe der Andersdenkenden.
'Unsere Welt fand hinter geschlossenen Türen statt', beschreibt Griebel die vermeintliche Hermetik seines Kreises, die aber für die Gleichgesinnten offenstanden. Ab 1980 führt Griebel seinen 'Kellerfreitag' ein – eine Loschwitzer Institution, die insgesamt fast 15 Jahre besteht. Im Griebel-Keller, an dessen Wänden Bruder Georg Griebel programmatisch farbkräftige Szenen aus dem Räuberleben ins Bild gesetzt hat, wird nicht nur getrunken oder folgenlos debattiert. Hier hält der Hausherr auch lokalgeschichtliche Vorträge.
Die Boheme-Welt des Körnergartens ist jedoch nur eine Facette der staatsabgewandten Seite von Loschwitz. Vor allem das Leonhardi-Museum in der Grundstraße 26 sorgt mit seinen von spektakulären Aktionen gekrönten Ausstellungskontinuität für den Erhalt einer künstlerischen Alternative. Das ehemalige Atelier des spätromantischen Malers und Ludwig-Richter-Schülers Eduard Leonhardi, der testamentarisch eine Nutzung des Fachwerkgebäudes durch junge Künstler bestimmt hat, wird bereits in den 1960er Jahren zu einem Kunstort mit Breitenwirkung.
In jener Zeit (um 1980) wird auch das Biotop Loschwitz von einer sich umgreifenden Agonie und kulturellen Lähmung nicht verschont. Die Anzahl der Ausreisenden nimmt erheblich zu, und auch der Körnergarten verliert einen großen Teil seines Stammpublikums. Seismographische Indizien des Niedergangs. Selbst die Neujahrsgrüße von Matthias Griebel, sonst immer humorvolle Selbstinszenierungen, von Ernst Hirsch fotografiert, werden zu düsteren Menetekeln.
Ein Ausverkauf der Loschwitzer Szene setzt ein, der erst mit dem Umbruch des Jahres 1989 aufgehalten wird. 'Wir wollten mit unserem Ausreiseantrag ein Zeichen setzen' verteidigt der Filmemacher Ernst Hirsch die Motivation zum Verlassen des Landes.
'Es hat zwar viele Freunde damals nicht verstanden, aber es ging einfach nicht mehr. Und ich glaube, dass durch diesen Schritt viele nachdenklich geworden sind, was hier in diesem Land mit ihnen geschieht. Wenn der Hirsch geht, dann muss das doch Gründe haben. Der geht doch nicht, weil er ein Telefon oder Auto will. Und dieser Zweispalt zerstörte vieles. Es war einfach nicht mehr die Stimmung zum Feiern da. Man zeigte auch nach außen keine große Aktivität mehr. Da haben wir dann in Loschwitz aufgehört mit den Festen.'
Mehr von und über Ernst Hirsch
In der nächsten Woche setzten wir die Autobiografie fort, dann lesen Sie mehr über Hirschs Blick hinter den "Eisernen Vorhang"
Das vorangegangene Kapitel über Hirsch und seine Schiffsreisen können Sie HIER nachlesen. Zum Start der Serie klicken Sie HIER.
In der Mediathek der SLUB sind viele Filme aus der Sammlung von Ernst Hirsch bereits digitalisiert.